Marlies Matejka leitet die Telefonseelsorge in Österreich, die jährlich 25.000 Gespräche mit problembelasteten Menschen führt. Anlässlich des 18. IFOTES-Kongresses (International Federation of Telephone Emergency Services), der heuer vom 10. bis 14. Juli unter dem Motto „Alternativen zur Gewalt“ stattfand, sprach sie mit mokant.at über Selbstmord, Loyalität zur Kirche und Momente, in denen sogar sie auflegt.
mokant.at: Beim Kongress „Listening for peace“, der von 10. bis 14. Juli stattgefunden hat, war Gewalt das Hauptthema. Rufen oft Menschen bei der Telefonseelsorge an, die mit Gewalt konfrontiert sind?
Marlies Matejka: Ja, unsere Mitarbeiter führen immer wieder Gespräche zum Thema Gewalt. Allerdings sind wir keine spezielle Gewaltberatungsstelle, dafür gibt es Frauenhäuser oder den Frauennotruf der Stadt Wien, das sind wirklich Beratungsstellen für Opfer. Wir sind eine ganz niederschwellige Einrichtung, die Gespräche zu allen Themen anbietet und das macht es für manche Menschen einfacher, bei uns anzurufen. Wenn zum Beispiel eine Frau anruft und sagt, mein Mann hat mich geschlagen, es ist mir schrecklich unangenehm und peinlich, dass jemanden zu erzählen. Ich schäme mich dafür, dass mir das passiert ist, will mich aber nicht trennen.
mokant.at: Wie reagieren Ihre Mitarbeiter auf einen solchen Anruf? Wird dann geraten, zur Polizei zu gehen, oder wird zunächst nur zugehört und zur Kenntnis genommen?
Marlies Matejka: Das Ziel ist es, mit der Betroffenen einen Weg zu finden, den sie auch gehen kann. Manchmal bekomme ich beim Zuhören stellvertretend für das Opfer eine Wut auf den Täter. In einer solchen Situation ist es wichtig, sich selbst und die eigenen Gefühle an die Seite zu stellen und sich nicht von den eigenen Empfindungen mitreißen zu lassen. Wir versuchen immer mit den betroffenen Menschen gemeinsam eine Lösung zu finden und geben keine allgemeinen Ratschläge.
mokant.at: Wie funktioniert das Einstellen von neuen Mitarbeitern? Gibt es Ausschließungsgründe?
Marlies Matejka: Wir haben eine Altersgrenze, die bei 24 Jahren liegt, weil eine gewisse Lebenserfahrung in Krisengesprächen hilfreich sein kann. Ansonsten gibt es keine Voraussetzung bezüglich einer psychosozialen Vorbildung, ob Studenten oder Hausfrauen, ist egal. Das Wichtigste ist, dass sich die Bewerber nicht gerade selbst in einer Art Krise befinden und mit eigenem Schmerz beschäftigt sind.
mokant.at: Wie lässt sich überprüfen, ob jemand in einer Krise steckt?
Marlies Matejka: Es ist nicht durch Abfragen überprüfbar, aber in der Ausbildung wird es sichtbar. Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist die Selbstreflexion über die eigenen wunden Punkte. Wir hatten einmal in einer Ausbildungsgruppe eine Frau, die beim Thema Suchtkrankheit und Alkohol nicht mitreden wollte. Es hat sich dann herausgestellt, dass ihr eigener Vater Alkoholiker war. In der Ausbildung ist es wichtig zu verinnerlichen, dass der eigene Vater nicht identisch ist mit dem Menschen, der hier anruft. Jeder Anrufer hat das Recht, dass ich mich ihm zuwende.
mokant.at: Gibt es Situationen, in denen jemand anruft und sagt „ich stehe gerade auf der Brücke und springe gleich“?
Marlies Matejka: Das kommt schon vor, aber nicht oft. Wir haben ungefähr 25 000 Gespräche in Wien, davon sind eineinhalb Prozent solche Fälle, was gar nicht so wenig ist.
Interview erschienen bei mokant.at
Foto: mokant.at/Michaela Wein